Auftrag erfüllt: Die Rundfunkräte der Landesrundfunkanstalten haben Qualitätsrichtlinien für das ARD-Gemeinschaftsangebot auf den Weg gebracht

Von Klaus Sondergeld*

Im 3. Und 4. Medienänderungsstaatsvertrag haben die Länder als Konsequenz aus vielerlei Kritik der letzten Zeit nicht gerade wenige neue Vorschriften und Verfahren für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten beschlossen. U.A. erteilt § 31 Abs. 4 Medienstaatsvertrag nunmehr den Fernseh-, Hörfunk- und Rundfunkräten den Auftrag, "Richtlinien aufzustellen und die Intendantinnen und Intendanten in Programmfragen zu beraten. Die Richtlinien umfassen die Festsetzung inhaltlicher und formaler Qualitätsstandards sowie standardisierter Prozesse zu deren Überprüfung." Im Fall der ARD bezieht sich der Auftrag auf das lineare und digitale Gemeinschaftsangebot. Mithin musste eine gemeinsame Arbeitsgrundlage für die Rundfunkräte der neun zuliefernden Landesrundfunkanstalten sowie den ARD-Programmbeirat und den Telemedienausschuss der Gremienvorsitzendenkonferenz (GVK) auf der Gemeinschaftsebene entwickelt werden.

Bei allem damit verbundenen Aufwand: Mit lebenspraktischem Augenmaß aufgestellt und angewandt, haben Vorschriften und Verfahren durchaus ihre guten Seiten. Sie strukturieren Prozesse, ermöglichen systematische, methodisch vergleichbare Diskurse und Ergebnisse. Das kann sich gerade für eine Arbeitsgemeinschaft sehr unterschiedlich aufgestellter und tickender Sender, die kooperieren und etwas Gemeinsames produzieren, als vorteilhaft entpuppen. So haben sich die neun Rundfunkräte - intensiv vorbereitend vor allem ihre Programm- oder eigens eingerichtete Ausschüsse sowie die beiden Gremien auf ARD-Ebene – in ihr arbeitsreiches Schicksal gefügt und sich konstruktiv ihrer neuen Aufgabe gewidmet. Dabei erwiesen sich ihre Mitglieder gerade aufgrund ihrer Herkunft aus sehr unterschiedlichen fachlichen und lebenspraktischen Erfahrungswelten in ihrem Zusammenwirken als Experten für Realitätssinn und Augenmaß.

Nach einem Auftakt mit voluminös profunder wissenschaftlicher Beratung haben schätzungsweise 200 Ehrenamtliche aus neun Sendern in vielen Sitzungen in Präsenz an wechselnden Orten und digital, auf ARD-Ebene und dezentral, qualifiziert unterstützt und zusammengehalten durch eine kompetente Geschäftsstelle der GVK eine Qualitätsrichtlinie und einen Leitfaden für deren Anwendung erarbeitet. Ende Februar werden sie von allen Rundfunkräten nach bisherigem Verlauf mit viel Zustimmung beschlossen sein. Die Richtlinien berücksichtigen alle Genres des Gemeinschaftsangebots in gleichermaßen angemessener und wertschätzender Form, auch Kultur und Unterhaltung. Dabei haben die Verfasser der Versuchung widerstanden, jede Norm so weit zu detaillieren, dass sie bürokratisch perfektionistisch jeden denkbaren Eventualfall vorwegnimmt. Auch die Regelungen für die Umsetzung der Qualitätskontrolle, einschließlich der Zuständigkeiten und der Arbeitsteilung zwischen ARD-Programmbeirat und GVK-Telemedienausschuss sowie dezentralen Gremien, lassen Spielräume für eine Erprobung und eine sukzessive Ausformung in der Praxis. Auch wer mit viel Zeitaufwand dabei war, darf wohl, weil nur einer von 200, sagen: Hut ab vor einem solch komplexen, rein argumentativ ausgetragenen Beratungs- und Einigungsprozess – demokratisch, föderal und mit brauchbarem Resultat!

Neben der pragmatischen Dimension der Auftragserfüllung gibt es eine tiefere. Denn die in den Richtlinien aufgestellten Maximen gebrauchen insbesondere für die im weitesten Sinne journalistischen Angebote unvermeidlich normativ aufgeladene Begriffe, die gegenwärtig nicht nur in Fachdebatten oder an politischen Rändern diskutiert werden. Und manche sind erst jüngst in die Kritik geraten, wie "kontextualisieren" (in der Debatte nach der Hamas-Terrorattacke und der Reaktion darauf von Israels Regierung und Armee). Andere mitunter umstrittene Vokabeln sind "einordnen", "faktenbasiert", "vorurteilsfrei", "sachlich", "umfassend", "unabhängig", "Themen- und Meinungsvielfalt", "Ausgewogenheit", "false balance", "Unparteilichkeit", "Objektivität" - und ja: "wahrheitsgemäß"“.

Aber heißt es denn nicht: "Es gibt keine Wahrheit mehr, nur noch Erzählungen"? Dieses zeitgeistige Fundstück wird Jim Morrison zugeschrieben. Der unvergessliche Frontmann der legendären "Doors" starb schon 1971. Seither hatten ganze Generationen kritischer akademischer Geister Gelegenheit, vormalige Gewissheiten zu dekonstruieren. Bernd Stegemann, scharfzüngiger Kritiker der "Identitätspolitik", so auch der Titel seiner Streitschrift, zieht folgendes Resümee der Entwicklung: "Die neue Wahrheit der postmodernen Theorien besteht darin, dass es keine Wahrheit mehr gibt, die für alle gleichermaßen gültig wäre" (S. 17) - wenn also "Realität zur Ansichtssache wird", wie es Murad Erdemir im "Forum Medienzukunft" (epd-medien Nr. 40 v. 6.10.2023) formuliert hat.

Vielen Autoren**, etwa Daniel-Pascal Zorn (Die Krise des Absoluten, 2022) oder Jenni Brichzin und Wolfgang Welsch in einem Sammelband der Leuphana-Universität (Öffentlichkeiten zwischen Fakt und Fiktion, 2023), ist der Bogen vom Philosophen-Trio Foucault, Derrida und Lyotard bis zu Donald Trump und der politischen Rechten wie auch Verschwörungsmythen zu leichtfertig gespannt, um die diagnostizierte "ausgewachsene Wahrheitskrise" (Brichzin, S. 46) erklären zu können. Danach liegt die Quelle des "postfaktischen" oder "post-truth"-Zeitalters viel eher in den technischen Manipulationsmöglichkeiten der sozialen Medien mit ihren aufmerksamkeitsökonomisch steuernden Algorithmen, verschlimmert noch durch Künstliche Intelligenz. In der Tat ist ein anschwellender fake-news-Tsunami, getriggert und befeuert von Diktaturen und Autokratien, dazu von einer "Desinformationsindustrie“, die „einen weltweit wachsenden Markt der Meinungsmache" (Murad Erdemir, a.a.O.) bedient, ein herausragendes Kennzeichen der Postmoderne, wenn man die Gegenwart so bezeichnen will. Die Ursache aber in der gleichnamigen Theorie zu vermuten, mag wiederum daran liegen, dass "Postmoderne" zu einer "philosophischen Kampfvokabel" (Zorn, S. 12) geworden ist.

Angesichts dieser verwirrenden "neuen Unübersichtlichkeit" und des unaufhaltsamen, auch medialen Aufstiegs der Narrative von den Narrativen, von Meistererzählungen also irgendwo zwischen Wunsch oder Wahn und Wirklichkeit, hat der führende deutsche Vertreter des Neuen Realismus schon 2021 zum Befreiungsschlag ausgeholt: Markus Gabriel bezeichnet (in: Sinn des Denkens) alles Gerede vom "postfaktischen Zeitalter" schlicht als "Lüge" (S. 14). Seine leidenschaftlich verständliche Schreibe sollte man ihm im Übrigen ebenso wenig ankreiden wie die Veröffentlichung seiner Werke in der populär erschwinglichen Taschenbuchform bei Ullstein. Für den Philosophen steht fest: "Würden wir nicht grundsätzlich eine ähnliche Auffassung darüber haben, wie die Wirklichkeit ist, gäbe es keine gemeinsame Basis für eine sprachliche Kommunikation" (S. 80). Für Gabriel gibt es daher unzweifelhaft Tatsachen, die man auch als solche erkennen kann. "Alternative Fakten" und "fake news" gebe es dagegen gar nicht. "Beide Ausdrücke sind selbst bereits fake, sie stiften nur Verwirrung," ergänzt er, um (auf S. 85) einen medienkritischen Rundumschlag anzuschließen: "Es gibt Tatsachen, aber über sie wird schlecht oder nicht angemessen berichtet, wie zum Beispiel in der heute schlechterdings gängigen Form der wertenden journalistischen Kommentare, die mehr zur Verunsicherung als zur Aufklärung der Öffentlichkeit beitragen. (…) Berichterstattung und Meinungsmache sind zu unterscheiden und sollten in der Öffentlichkeit viel besser voneinander getrennt werden, als dies heute der Fall ist, weil klassische Medien um Klicks und Likes ringen" – mit einer "Informationsverrohung" als Folge.

Sophie Schönberger knüpft in ihrem Essay (Zumutung Demokratie, 2023) wohl an das berühmte Luhmann-Zitat an ("Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien"), wenn sie bedauert (S. 130ff.), wie sehr die Medienlandschaft sich ausdifferenziert habe; dabei hätten sich "insbesondere auch herkömmliche Formen von Individual- und Massenkommunikation derart vermischt, dass ein medial vermitteltes, alltägliches gemeinsames Welt- und Handlungswissen in immer geringerem Maße plausibel ist". Das Miteinanderreden werde erschwert, durch "die immer brüchiger werdende Abgrenzung zwischen Tatsachen und Meinungen". Das Bewusstsein steige dafür, "dass sich subjektive Elemente der Wahrnehmung und objektive Ansprüche an Wahrheit doch nicht immer so genau trennen lassen“. Dennoch oder gerade deshalb misst die Professorin für öffentliches Recht dem "Modell gesellschaftlicher Kommunikation des Bundesverfassungsgerichts" eine "immer noch entscheidende normative (…) Kraft" bei. Ihm liege die Annahme zugrunde, "dass es sich bei der Wahrheit um eine feststehende, vollkommen objektivierbare Größe handelt und dass nur diese Wahrheit im gesellschaftlichen Diskurs des Verfassungsstaates von Relevanz ist". Am Ende ihres Abwägens zwischen dem Verlangen nach objektiver Wahrheit und der Vormacht der subjektiven Wahrnehmung „steht die Erkenntnis, dass sich die überidealisierte Vorstellung eines rationalen, sachlichen Diskurses in der demokratischen Gemeinschaft (…) als Wunschvorstellung erwiesen hat." So wird für sie "in einem grundsätzlichen Sinn die Frage prekär, was überhaupt geteiltes Wissen ist und ob es bei der Fähigkeit, miteinander zu reden und sich zu verstehen, nicht vielleicht in noch viel größerem Maße darum geht, sich auf gemeinsame Institutionen zu einigen, denen man bei der Vermittlung eines bestimmten Weltwissens vertraut".

Solcherart Vertrauen bringt in unserem Land immer noch eine beachtliche Mehrheit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk entgegen. Die große Studie von Steffen Mau u.a. (Triggerpunkte, 2023) zeigt darüber hinaus, dass es in unserer Gesellschaft sogar in den vier großen „Konfliktarenen“, in denen es um soziale Gerechtigkeit, LGBTQIA+, Zuwanderung und Asyl sowie Klimaschutz für künftige Generationen geht, immer noch erstaunlich breite Konsense gibt. Wer die Demokratie bewahren will, darf sich darauf aber nicht ausruhen. Dem guten Zweck, das Vertrauen in die Öffentlich-Rechtlichen zu rechtfertigen und möglichst weiter auszubauen, können auch die Qualitätsrichtlinien dienen. Die wenigen auf die aktuellen Debatten um das Verhältnis zwischen Wahrheit und Wahrnehmung, Weltwissen und Weltanschauung geworfenen Schlaglichter lassen jedoch die Erkenntnis aufblitzen, auf welch zwar bedeutsamen, doch zugleich schwankenden Boden sich ehrenamtliche Aufsichtsgremien mit einem solch ehrgeizigen Unterfangen begeben. Da gibt es mithin einiges zu sortieren.

Um in einer ersten Annäherung zu ergründen, was die Qualitätskriterien für Angebotsbeobachtung und -kritik bedeuten können, bietet sich auf ehrenamtlich realitätsbezogene Manier ein Gedanken-Spaziergang an zu einem konkreten Anschauungsobjekt in Sachsen-Anhalt. In Dessau nämlich steht unweit des Weltkulturerbes Bauhaus eine kleine Sehenswürdigkeit mit dem Zeug zum erkenntnistheoretischen Weltwunder. An diesem Ort lässt es sich trefflich über Tatsachen und fakes, Objektivität und Perspektiven, Wahrheit und Kontext nachgrübeln. Wenn man aus Richtung der Meisterhäuser auf den Georgengarten zugeht, sieht man eine anscheinend römische Ruine. Schon das gedankliche Kramen in bescheidenem Bildungsgepäck oder eine spontane Smartphone-Recherche reichen, um darin einen täuschenden Nachbau zu vermuten. Und tatsächlich, Prinz Johann Georg, jüngerer Bruder des Fürsten Leopold II. von Anhalt-Dessau, ließ das dekorative Element Ende des 18. Jahrhunderts in seinen Landschaftspark englischen Stils hineinschwindeln. Ein dreifacher fake: Die Römer waren nie bis hierher vorgedrungen, der Verfall verdankt sich nicht dem Zahn der Zeit, und in den englischen Vorbildern des Parks wimmelt es auch nicht gerade von echtem Römererbe. Der Clou aber sind „Die sieben Säulen“, wie das „Denk-mal!“ im Volksmund heißt. Dem ersten Anblick zeigt sich exakt diese Zahl an Rundpfeilern, die das Dachfragment tragen. Schon profunde Halbbildung macht erneut stutzig: die symmetrieverliebten Römer und eine ungerade Zahl an Säulen …? Und ein fürstlicher faker, der das nicht wusste? Beim prüfenden Umrunden bleibt es eine ganze Weile bei sieben Säulen. Doch auf einmal kommt für einen Moment eine achte in den Blick. Dann sind es wieder sieben. Insgesamt gibt es nur wenige Standpunkte und sich daraus ergebende Perspektiven, die eine achte Säule erkennen lassen. Von allen anderen Positionen aus betrachtet, ist offenbar immer eine durch eine andere verdeckt. Wer diese Wahrnehmung nicht leichtgläubig für wahr nehmen will, muss mit exakteren Methoden empirisch ergründen, welche Anzahl Täuschung ist und welche Tatsache. Wer die Lächerlichkeit des Anblicks nicht scheut, umarmt eine Säule nach der anderen und zählt dabei, Ergebnis: acht. Ein weiterer Vorteil des Verfahrens: Die Nähe zum Material ermöglicht zugleich eine Prüfung, ob es sich um Marmor handelt oder eine weitere Fälschung. Ein Nachteil ist: Der Blick aufs Ganze geht verloren. Den hat man nur, wenn man vom Erkenntnisobjekt einige Schritte zurücktritt und dabei riskiert, wieder nur sieben Säulen zu sehen. Der beste Ausweg aus dem Dilemma: Man schaut, zählt und prüft gemeinsam mit anderen und verständigt sich über die stetige Vervollständigung der geteilten Beobachtung. Nahsicht und Fernsicht, am besten aus verschiedenen Perspektiven, ergeben ein umfassenderes Bild – wie etwa beim Zusammenspiel zwischen Reporter vor Ort, mehrköpfiger Heimatredaktion und Moderatorin im Studio.

Wenn man auch die Umgebung des Monuments in den Blick nehmen will, hängt das, was man sieht, erneut erheblich von Standpunkt und Blickwinkel ab. Aus westlicher Sicht betrachtet, fügen sich Bauwerk und Baumbestand dahinter zu einem stimmigen Idyll. Aus der Parkperspektive sieht man jedoch hinter wenigen Bäumen einen üppig dimensionierten Verkehrsknotenpunkt. Der vermeintliche Zauber des Ortes weicht der Ernüchterung (und aus heutiger Sicht der Frage, ob es nicht auch ein kleinerer Kreisel getan hätte – doch zum möglichen Zusammenhang von Bewertung und Beobachtung später). Aber beide Kontexte gibt es tatsächlich und einige mehr, wenn man aus weiteren Richtungen schaut. Besonders nach der alljährlichen Zeitenwende, wenn die Luft kalt und die Bäume kahl werden, offenbaren sich noch ganz andere Hintergründe. Und selbst die Täuschung ist real, wenn man sie auch erst als solche entlarven muss. Was also ist das ganze Bild? Und wie könnte man es einfangen und vermitteln? Und was ist, wenn neben Standpunkten und Blickwinkeln im Raum ästhetische oder historisch-kritische Perspektiven und noch andere Werturteile hinzukämen: Ist die Scheinruine als Spleen eines gelangweilten Aristokraten zu bewerten, der dafür Schicksale von Untertanen verbaute? Oder ist sie als kunsthistorisch wertvoll einzuordnen? Oder ist sie einfach ein heute gern bestauntes Kuriosum an einem viel besuchten Erholungsort?

Prägen solcherart Werturteile eine Schilderung? „Rahmt“ die Wortwahl das Beschreibungsobjekt, z.B. als dekoratives Überbleibsel, als bespötteltes Steh-im-Weg, als historische Attraktion oder ausbeuterische Prinzenmarotte? Oder verzichtet der Berichterstatter auf framing und versucht, die Darstellung von der Bewertung zu trennen? Bei bedeutenderen Inhalten und medialer Berichterstattung darüber, öffentlich-rechtlicher zumal, sind die Antworten nichts für die leichte Schulter. Das gilt erst recht auch für Qualitätsrichtlinien und standardisierte Prozesse zu ihrer Überprüfung. Denn schon das überschaubare Beispiel zeigt, wie anspruchsvoll es ist, ein Gesamtbild aller Ansichten – des Beobachteten wie der Beobachter - zu erzeugen. Wie viel schwieriger ist es dann, wenn es sich nicht um ein statisches Objekt handelt, das man in aller Ruhe und von allen Seiten, per Drohne sogar von oben, betrachten kann, sondern um ein plötzliches Ereignis oder ein dynamisches Geschehen? Oder wenn es um komplexe Sachverhalte geht, gar solche, die von Wertungen kaum zu trennen sind wie z.B. Diskriminierungen jedweder Art? Immerhin macht Prinz Georgs steinerne Hinterlassenschaft Mut, dass Tatsachen (8 Säulen!) auch von verschiedenen Standpunkten aus erkennbar sind.

Das Dessauer Objekt der Beäugung und die im Gedanken-Gang gewonnenen Einsichten sollen nun auf journalistische Erkenntnis- und Darstellungsprobleme übertragen werden. Zu Analysezwecken können dabei drei Aussagearten bzw. Aussageabsichten idealtypisch unterschieden werden: Erstens Nachricht und Bericht, zweitens das Kontextualisieren oder Einordnen bzw. die "Einschätzung", eine in Moderationen gegenwärtig häufig hörbare Bezeichnungsvorliebe, sowie drittens das Bewerten und Beurteilen im Kommentar.

Worum es bei der ersten Aussageart geht, hat Ludwig Wittgenstein auf sein berühmtes Diktum gebracht: "Die Welt ist, was der Fall ist." Und was der Fall ist, sind Tatsachen. Welche Qualitätskriterien darauf angewendet werden können, ist relativ klar. Aussagen darüber müssen "wahrheitsgemäß" sein, ihre Formulierungen "sachlich". Ihre Auswahl für eine Berichterstattung sollte nach Relevanz und Aktualität erfolgen, also "unabhängig" von Interessen und "unparteilich". Für wen auch immer unangenehme Fakten dürfen nicht verschwiegen werden, um der Glaubwürdigkeit willen ebenso wenig solche, die für die "Falschen" nützlich sind. Und eine "Themenvielfalt" darf nicht um den Preis der Irrelevanz erzeugt werden. Was aber bedeutet "objektiv" in diesem Zusammenhang, ist es nur ein Synonym für unparteilich oder heißt "objektiv" mehr?

Stephen Gaukroger hat (in: Objektivität. Ein Problem und seine Karriere, 2017) aus dem üblichen Gebrauch des Begriffs fünf Bedeutungen herauspräpariert. An dieser Stelle passt zunächst die Spielart, die auf einen wissenschaftlichen Objektivitätsbegriff zurückgeht. Danach ist "objektiv" etwas, was begründet ist und aus einem intersubjektiv nachvollziehbaren Verfahren hervorgeht, mit dessen Hilfe man zwischen gegensätzlichen Ansichten oder Theorien entscheiden kann. Das Ergebnis wäre nach Gaukrogers Klassifikation eine weitere Ausprägung: eine (möglichst) exakte Repräsentation von Realität. "Objektivität" in diesem doppelten Sinn beruht mithin auf einem Prozess - des Objektivierens. Auf unserem Gebiet besteht er in der Anwendung "der anerkannten Verifizierungspraktiken des Journalismus" und der Einhaltung der "journalistischen Sorgfaltspflichten", wie es in den Qualitätsrichtlinien heißt. In dieser Bedeutung ist "Objektivität" durchaus graduell zu verstehen und fordert ein stetes Streben nach Verbesserung, bis wir – möglichst - "sehen, wie die Dinge wirklich sind" (Gaukroger, S. 16).

Aber auch was tatsächlich geschehen oder Sache ist, muss benannt werden und wird eigentlich bereits in Sprache gefasst wahrgenommen. Und schon zeichnen sich neben unfreiwilligem Irrtum und absichtlicher Täuschung weitere Grenzen allseits akzeptierbarer Allgemeingültigkeit ab. Wer beispielsweise eine skeptische Haltung gegenüber der westlichen Unterstützung der Ukraine hegt, empfindet die Routinebezeichnung "russischer Angriffskrieg" in Nachrichtensendungen oft schon als mindestens pädagogisierend. Womöglich käme man auch ohne sprachliche Überlast aus mit: "der russische Angriff auf" oder "der russische Krieg gegen die Ukraine". Am Faktum, dass eine russische Armee befehlsgemäß völkerrechtswidrig die Grenze eines souveränen Mitglieds der Vereinten Nationen mit aller Waffengewalt überrollt und damit einen Krieg begonnen hat, gibt es vernünftigerweise keinen Zweifel. Und jede verharmlosende Bezeichnung wäre die Umdeutung einer Tatsache. Aber wie nennt man z.B. den russischen Oberbefehlshaber? Ist es "unparteilich", ihn nach seiner (durch nachweislich unfreie Wahlen erlangten) formalen Position zu bezeichnen? Die Frage lässt sich auch auf Oberhäupter befreundeter oder verbündeter Staaten übertragen: Sind sie "Präsident", "Sultan", "Staatschef", "Machthaber", "(Gewalt-)Herrscher", "Autokrat", "Theokrat", "Diktator"? (Das Maskulinum ist hier eine hinreichend umfassende Repräsentation der Realitäten.) Als genereller Maßstab, nicht nur für Herrschaftsformen, bietet sich gemäß Qualitätsrichtlinien "die freiheitlich-demokratische Grundordnung" an. Das sind der Artikel 1 ("Die Würde des Menschen ist unantastbar") und der Artikel 20 Grundgesetz, der unser Land als freiheitlichen und sozialen Bundes- und Rechtsstaat definiert. Beide sind durch die "Ewigkeitsklausel" in Artikel 79 in ihrem Kernbestand garantiert. Zur Grundordnung gehören ebenso die übrigen Grundrechte.

Neben Bezeichnungsvarianten, die selbst bei nüchterner Wiedergabe von Tatsachen unterschiedliche Auffassungen ausdrücken können, gehen mit Nachrichten durchaus weitere Herausforderungen einher. So kritisierte die "Kontext: Wochenzeitung" kürzlich: „Auch über Interviews und sogar zur Primetime und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk werden Falschdarstellungen millionenfach verbreitet.“ So habe ein Ministerpräsident unwidersprochen erklären dürfen, in Sachen Tierwohl gebe es keine Unterstützung für die deutsche Landwirtschaft. Ihm hätte entgegengehalten werden müssen, dass es nicht nur von einzelnen Ländern Geld, sondern auch vom Bund eine Milliarde Euro für die aufwändigere Schweinehaltung gebe. Zum einen ist dies – sachliche Korrektheit des Arguments vorausgesetzt – ein Appell, auch beim Einholen von Politiker-O-Tönen durch hohe Sachkenntnis vorbereitet zu sein und möglichst schon mit einer Frage nachzuhaken. Zum anderen dürfte auch dem Publikum vertraut sein, dass der "demokratische Meinungskampf", ein vom Bundesverfassungsgericht wiederholt benutzter Ausdruck, nicht auf Wahrheitsfindung abzielt, sondern auf Wettbewerbsvorteile. Aus einer medialen Schiedsrichterrolle kann da leicht eine Mitstreiterrolle werden. Wenn aber nachweislich gelogen wird, so kann auch diese Tatsache zur Meldung werden. Wie meistens, ist auch in solchen Fällen eine sorgfältige Prüfung und Abwägung gefragt, bei der Angebotserstellung wie bei der Angebotskritik. Und manchmal endet auch alles Drehen und Wenden in einer offenen Frage: Muss ein O-Ton vom Gründungsparteitag des Bündnisses Sarah Wagenknecht in einem Nachrichtenmagazin von NDR-Info, in dem die Tatsachenbehauptung aufgestellt wird, "NATO-Staaten" hätten im Frühjahr 2022 eine Verhandlungslösung zwischen Russland und der Ukraine verhindert, mit dem Hinweis versehen werden, dass dies umstritten ist? Die Berliner Zeitung brauchte viele Zeilen, um zum Resümee zu gelangen, dass es bisher keine klaren Beweise dafür gebe, dass Boris Johnson Anfang April 2022 in Kiew etwas verhindert habe – für das Gegenteil aber auch nicht.

Neben "Benennungsfuror" ist es wohl die zweite Aussageart, das Einordnen, Kontextualisieren oder Einschätzen, die die meiste Kritik und die häufigsten Vorbehalte, z.B. des Philosophen Gabriel, auslöst. Vordringlich geht es dabei darum, welche anderen Tatsachen zum Kontext eines berichteten Sachverhalts, Geschehens oder Ereignisses gehören. Die Auswahl hat unweigerlich etwas mit Standpunkten und Perspektiven zu tun. Ist es für guten Journalismus z.B. unerlässlich, den Fährhafen Schüttsiel, wo Wirtschaftsminister Habeck attackiert wurde, in die landwirtschaftliche Förderkulisse einzuordnen? Die "Kontext: Wochenzeitung" kritisiert im schon erwähnten Artikel, dass nirgendwo Platz für die Information gewesen sei, dass der Landkreis das bundesweite Förderranking mit anführe.

Das gedankliche Umrunden des Dessauer Ruinenfakes hat schon gezeigt, dass es einen "Blick von nirgendwo" (Gaukroger, S. 82) nicht gibt. Was als Kontext in den Blick kommt, hängt vom Standpunkt ab - einmal ein Verkehrsknotenpunkt, in entgegengesetzter Richtung ein Parkidyll. Beide Ansichten sind möglich und berechtigt, aber nur Teil eines denkbaren Ganzen. Und ein gänzlich neutraler Blick, der von menschlichem Denken völlig unabhängig und in diesem Sinne objektiv wäre, ist selbst mit den avanciertesten Verfahren der Wissenschaft nicht möglich. Nach dem "realistischen Konstruktivismus" etwa des im Vorjahr verstorbenen Bremer Hirnforschers Gerhard Roth (Aus Sicht des Gehirns, 2009, S. 223f.) existieren Dinge zwar bewusstseinsunabhängig, ihre Wahrnehmung und ihr Erkennen muss aber unvermeidlich durch mindestens einen Kopf und dessen Gehirn hindurch. Verinnerlichte Muster oder Blickwinkel können dabei zu verzerrten oder gar irrtümlichen Wahrnehmungen führen. Menschliches Erkennen kann aber von einem einzigartigen Vorzug profitieren. Die Spezies Mensch kann sich nicht nur zu Fuß, sondern auch gedanklich auf unterschiedliche Standpunkte stellen und die Perspektive wechseln. Menschen können gewissermaßen Probeblicke riskieren und die Ansichten mit anderen austauschen und abgleichen. Das können auch Angebotsmacher ebenso wie Angebotsbeobachter. Redaktionen wie Gremien können dabei von Pluralität und Diversität nur profitieren. So können sie sich an Objektivität in einer weiteren Gaukroger-Variante heranarbeiten. Danach kann "objektiv" auch mit "unvoreingenommen" und "vorurteilsfrei" übersetzt werden. Aber auch das wird in aller Lebenspraxis wie auch im journalistischen Alltagsgeschäft selten perfekt gelingen und immer eher ein Streben als ein Erreichen sein.

Die missverständlichste Ausprägung des Objektivitätsbegriffs soll nicht unerwähnt bleiben. Nach Gaukroger meint sie: "frei von Annahmen und Werten". Keine journalistische Recherche beginnt ohne Vermutung, und sei es eine durch Tipps ausgelöste vorsorgliche Bösgläubigkeit. Kaum eine Frage dürfte ohne (Ausgangs-)Hypothese auskommen. Entscheidend ist die Offenheit für eine begründete Widerlegung. Aber aller Start mit einer Annahme, was möglicherweise der Fall war oder ist, wird selbst dann kaum restlos aus einem Erkenntnis- und Darstellungsprozess herauszufiltern sein. Objektiv im Sinne von "frei von Annahmen" ist mithin wohl ein unerreichbar theoretisches Ideal. Das gilt ebenso für die Zwillingsbedeutung "frei von Werten". Danach zu streben, wäre nicht einmal in jedem Fall wünschenswert. Zum einen durchzieht auch die Wissenschaft ein "Werturteilsstreit", der nicht mit dem Sieg der Auffassung endete, sie sei wertelos. Zum anderen ist öffentlich-rechtlicher Journalismus wertegebunden. Funktion und Bedeutung erhält er durch die in Artikel 5 Grundgesetz garantierte Rundfunkfreiheit. Die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ zu beachten und ihr zu dienen, ist demnach nur folgerichtig und Auftrag.

Ein interessantes Beispiel für Kontextualisierung lieferte der oben bereits zitierte Bernd Stegemann in der FAZ (v. 10.8.2023). Er spießte die „Technik der Collage“ in einem Beitrag des ZDF-Heute-Journals auf. Darin wurde der Bericht über Verhandlungen von hohen EU-Emissären mit dem tunesischen Staatspräsidenten über Maßnahmen zur Verminderung der Zahl von Flüchtlingen gekontert mit Bildern und Stimmen aus einem Flüchtlingslager. Zwei gleichzeitig real geschehene Vorgänge wurden wechselseitig kontextualisiert. An ihrer Tatsächlichkeit besteht kein Zweifel. Und ihre filmische Verknüpfung war nichts anderes als Handwerk. Seine Dramaturgenperspektive auf Kameraeinstellungen und Schnitt hat den Kritiker aber gehindert, den wohl in seinem Sinne eigentlichen Punkt zu machen. Statt der Not von Flüchtlingen in Nordafrika hätte der Film auch mit den gleichen Techniken die Unterbringungs- und Integrationsprobleme in deutschen Kommunen samt verzweifelnden Bürgermeistern und Landräten auswählen können. Sollte die Moderation diesen Zusammenhang hergestellt haben, wären in der Sendung immerhin beide Perspektiven (vergleichbar entgegengesetzt wie Verkehrsinsel und Parkidyll in Dessau) angesprochen worden.

An dieser Stelle muss einmal festgehalten werden: Unterschiedliche Standpunkte und Blickwinkel (sofern nicht verfassungs- oder gesetzeswidrig) und Auswahlentscheidungen (sofern nicht absichtsvoll manipulativ) sind von der (äußeren und inneren) Rundfunkfreiheit gedeckt. Die Qualität des Ergebnisses kann wiederum redaktions- oder senderintern oder auch durch die Gremienaufsicht unterschiedlich bewertet werden. Das ist ein Fall für Diskurse und für Fehlerkultur, nicht ganz so deutsch ausgedrückt: für Optimierungskultur. Und selbstverständlich ist es die Meinungsfreiheit eines und einer jeden, jeglichen Einzelbeitrag wegen Einseitigkeit der Perspektive zu kritisieren. Im Sinne der Rundfunkfreiheit kann die Ausgewogenheit der Themen und Meinungen, der Blickwinkelwinkel und Gesichtspunkte aber auch in der "Gesamtschau der Angebote der ARD" hergestellt werden. So formulieren es die Qualitätsrichtlinien. Ausgewogenheit kann auch nie so weit gehen, dass alle Perspektiven gleichermaßen abgebildet werden müssen, selbst obskure oder ganz vereinzelte. Das wäre false balance. Andererseits kann eine Kontraposition auch dann ihre Berechtigung haben, wenn in der Gesellschaft, unter Experten oder in der Parteienlandschaft ein breiter Konsens in der Einschätzung eines Vorgangs oder Sachverhalts herrscht. Womöglich könnte für die anteilige Wiedergabe von Minderheitenpositionen im Gesamtangebot so etwas wie das Prinzip der "abgestuften Chancengleichheit" herangezogen werden, wie es für die Berücksichtigung unterschiedlich großer Parteien in der Wahlkampfberichterstattung gilt. Vielleicht wäre das ein Weg, der von Harald Welzer (gemeinsam mit Richard David Precht und allein in: Zeiten Ende, 2023) angeführten Kritik an zu einheitlichem „Mainstream-Journalismus“ entgegenzuwirken.

Schließlich geht es bei allem auch um den subjektiven Faktor. Die erste Aussageart sollte möglichst frei davon sein. Oder wie es Harald Schmidt (DIE ZEIT v. 31.8.2023) ausgedrückt hat: "Meine Lieblingssprecherin ist Susanne Daubner: super Stimme, kein Zusatzkommentar, kein Zusatzblick, kein verschwörerisches Lächeln, einfach die Nachricht. Ich möchte die Meldung selbst beurteilen." Zum alleinigen Prinzip erhoben, würde ein solcher Journalismus allerdings den öffentlich-rechtlichen Auftrag verfehlen. Zur Aufklärung gehört nun einmal die Offenlegung von Hintergründen und Zusammenhängen. Auch mit größter Sorgfalt ist dabei Gaukrogers letzter Begriff von Objektivität mit einiger Gewissheit nicht zu erreichen; in diesem Sinn führt sie nämlich zu "Schlussfolgerungen, die universell akzeptiert werden".

Ein Mittel der Objektivierung blieb bisher unerwähnt, die Personalisierung von Standpunkt und Perspektive. Die Reportage und auch viele Korrespondentenberichte sind erkennbar oder deutlich kenntlich gemacht etwas manchmal sehr Persönliches. In Zuspitzung sind das die an den YouTube-Gewohnheiten der Zielgruppe orientierten und daher zuweilen zu Unrecht als "Selfie-Journalismus" geschmähten Reportagen des Y-Kollektivs oder anderer Funk-Formate. Oder wenn ein Jo Schück das Aspekte-Publikum auf eine Entdeckungsreise durch Namibia mit ins Auto nimmt. Intersubjektiv transparente Subjektivität ist eine Form der Objektivierung. Das gilt auch für Moderationen und jedenfalls so weit, wie man dem Publikum, in den Worten der Qualitätsrichtlinie, „eine eigenständige Meinungsbildung“ zutraut.

Dieses Zutrauen ist Grundlage der dritten und wohl einfachsten Aussageart. Kommentare sind als solche kenntlich gemachte Meinungen, "Äußerungen des Dafürhaltens, die durch die subjektive Beziehung zwischen dem Sprecher und seiner Aussage gekennzeichnet sind" (Schönberger, Zumutung Demokratie, S. 132 in Anlehnung an das Bundesverfassungsgericht). Das Dafür- und auch das Dagegenhalten hat jedoch nur dann sendbare Qualität, wenn die dabei gebrauchten Argumente keine erwiesenermaßen unwahren Tatsachenbehauptungen enthalten. Werturteile und Bewertungen sollten zudem offengelegt werden. Wenn Urteilsgründe transparent sind, kann ein mündiges Publikum sich einen eigenen Reim auf die Meinung machen. Aber es darf auch "Meinungsvielfalt (…) innerhalb der Gesamtschau der Angebote" (Qualitätsrichtlinien für die ARD) erwarten.

Die Richtlinien sind ein Werkzeugkasten, dessen Gebrauchswert für Angebotsbeobachtung und -kritik (die auch loben darf!) hier nur ansatzweise diskutiert werden konnte. Sie sind kein Zauberkasten, dessen Inhalt automatisch für Unstrittigkeit von Bewertungen sorgt. Das hängt auch mit der Aufgabe von Journalismus zusammen. DLR-Intendant Stefan Raue hat für sie die Formulierung gefunden: "Spiegeln, was ist". Mit Wittgenstein könnte man noch etwas zuspitzen: Spiegeln, was der Fall ist. Die Spiegel-Metapher drückt aus, welche Herausforderung darin liegt. Man kann darin sehen, was der Fall ist (wenn auch realiter spiegelverkehrt). Wie und wohin man den Spiegel hält, beeinflusst die Perspektive darauf und den reflektierten Realitätsausschnitt. Von seiner Größe hängt ab, wieviel Kontext in den Blick gerät. Und man kann ihn auf unterschiedliche Standpunkte stellen. Verschiedene Spiegelbilder kann man miteinander abgleichen und nach dem überzeugendsten Gesamtbild suchen, einschließlich Kontext und Bewertungen. Klarheit und Eindeutigkeit des Bildes hängen nicht zuletzt davon ab, wie geschliffen seine Qualität ist. Man kann diese Metaphorik noch weitertreiben, es dürfte aber klar geworden sein, dass Erkennen an sich ein anspruchsvoller Prozess ist, im Journalismus überdies unter Zeit-, auch unter Konkurrenzdruck. Umso wichtiger ist, dass Kritik sich Zeit lässt und diskursiv abwägt. Ein Schnellschuss trifft allzu oft daneben.

Voraussetzung ist ebenso eine Bereitschaft, Kritik auf- und ernst zu nehmen, wie es jüngst gerade die jungen Formate "Y-Kollektiv" und "Strg F" vorgemacht haben. Schließlich kommt eine Insiderin des elaboriertesten menschlichen Vorgehens bei der Feststellung, was der Fall ist, die Physikerin Sabine Hossenfelder (in: Das hässliche Universum, 2018, S. 299ff.) auf immerhin elf Verzerrungsrisiken, die die Objektivität wissenschaftlicher Ergebnisse beeinträchtigen können: vom confirmation bias über den in-group-bias bis hin zur "Mutter aller Verzerrungen (…), der Überzeugung, wir seien unvoreingenommen", dem bias blind spot.

Niemand ist gefeit gegen Selbstgewissheit bis zur Unbelehrbarkeit, weder Kritiker aus Gremien – oder Politik! – noch Angebotsmacher und -verantwortliche. Einander in der Unterschiedlichkeit von Überzeugungen und Bewertungen zu ertragen, wie Sophie Schönberger die Zumutung der Demokratie beschrieben hat, und immer wieder nach einer größtmöglichen Schnittmenge der Einsichten und Ansichten zu suchen, würde eine produktive Anwendung des Werkzeugkastens der Qualitätsrichtlinien ausmachen. Der diskursive Prozess ihrer Erstellung quer durch die ganze Republik stimmt zuversichtlich, dass ehrenamtliche Repräsentantinnen und Repräsentanten gesellschaftlicher Vielfalt dazu fähig sind.

* Der Autor dankt Ellen-Anna Best, Vorsitzende des nicht-ständigen Ausschusses Qualitätsrichtlinien des Rundfunkrats, Günther Dey, Vorsitzender des Verwaltungsrats, und Hermann Kuhn, Vertreter des Rundfunkrats von Radio Bremen im ARD-Programmbeirat und bis vor kurzem dessen Vorsitzender, sowie Sebastian Hügel, Leiter der GVK-Geschäftsstelle, für wertvolle kritische Hinweise zum ersten Entwurf des Textes, die ihm aber die Verantwortung für Fehler der finalen Fassung keineswegs abnehmen. Besonders sei der geduldig kritischen Allererst- und Allerletztleserin Birgit Dreessen-Sondergeld gedankt. Klaus Sondergeld ist seit 2016 Vorsitzender des Rundfunkrats von Radio Bremen.

** Aus Gründen der Einfachheit des Ausdrucks und der Lesbarkeit benutzt der Text (durchaus entgegen sonstigen Gewohnheiten des Autors) meistens das generische Maskulinum. Die pointierteste Begründung dafür findet sich bislang bei Markus Gabriel (Der Sinn des Denkens, 2021, S. 329): „Damit soll keineswegs suggeriert werden, dass ein Teil des lesenden und schreibenden Publikums die Menschheit paradigmatisch repräsentiert. Kinder, Komatöse, Transsexuelle, Frauen, Männer, Parteifunktionäre, Christen, Moslems, Schwarze, Weiße, Braungebrannte, Blonde, Greise und Rothaarige repräsentieren die Menschheit alle mit dem gleichen Recht, wenn auch nicht alle mit all ihren Meinungen recht haben. Der Mensch ist eben ein ziemlich bunter Vogel (ohne Federn).“

29.2.2024